Ansicht der Kartause Ittingen
Herstellungsjahr: 1715
Technik: Federzeichnung
Diese Ansicht ist heute die bekannteste, weil ihre Beschriftungen vielerlei Informationen liefern. Es handelt sich um eine Federzeichnung aus dem Jahr 1715.59 Ein Schriftband am unteren Rand verkündet: «Prospect [= Ansicht] / der Carthaus St. Lorentzen, genant Ittingen / Wie selbige Ao 1715 im Standt gewesen.» Darunter steht zwischen den Ittinger Wappenschilden mit Rost und Kessel nochmals die Jahreszahl 1715.
Diese äusserst detailreiche Zeichnung ist von grosser Bedeutung, weil sie den Zustand zu Beginn des 18. Jahrhunderts sehr genau wiedergibt. Zudem – und dafür sind wir besonders dankbar – hat der unbekannte Zeichner die Bauten mit Nummern versehen und am unteren Rand in einer Bildlegende aufgeschlüsselt. Das ermöglicht einen Einblick in die Lebenswelt der Kartause und ihre sinnvoll in Architektur übertragene Organisationsform. Die Zeichnung bezieht auch die Bauten ausserhalb der Klostermauern ein. Bei manchen Bauteilen vermerkt der Zeichner auch ihr Baujahr, vor allem wenn dieses noch nicht allzu lang zurückliegt. Wir folgen hier der Reihenfolge der Nummerierung und der Erläuterung durch den Zeichner.
Dem Lebensmittelpunkt der Kartäuser entsprechend beginnt die Aufzählung mit der Kirche unter besonderem Hinweis auf das neue Gewölbe und das Chorgestühl: «die Kirchen, wie dieselbige a R.P. [a Reverendo Priore, vom ehrwürdigen Prior] Christopero [sic] Schmid eüßerlich, auch innerlich mit dem herrlichen newen Gestüel und Gwelb repariert worden Ao 1703» (1).
Das neue Altarhaus erhielt sogar eine eigene Nummer, obwohl es einfach die Kirche nach Osten verlängerte und erweiterte: «daß in dißem jahr von ermeltem Herrn Prioren von grund erbawte newe Choor» (2). Diese Anpassung veränderte den Eindruck der Kirche wesentlich, weil der neue Chor den Raum vergrösserte und durch die seitlichen Fenster viel Licht einströmen lässt. Keinen Hinweis wert ist dem Zeichner die neue Gestaltung des Eingangsportals, die vermutlich ebenfalls im Zuge der Kirchenerneuerung vorgenommen wurde. Über das Dach der kleinen Vorhalle hinaus ragt nun ein repräsentativer gesprengter Dreiecksgiebel.
Im Südflügel der Konventbauten, an dessen Treppenturm erstmals eine Uhr zu erkennen ist, folgt das «Priorat mit Zugehördt» (3), die Räume für den Prior und seine repräsentativen Funktionen. Die Fenster sind gegen aussen gerichtet. Zwar musste der Prior vor allem für das Wohl der Gemeinschaft im Innern sorgen, doch war er auch das Bindeglied zur Welt. Unter dem Priorat, in der Ecke zum Wirtschaftshof, liegt «die Schaffnerey völlig gewelbt» (4), meist Procuratur genannt. Der hier wohnende und amtende Schaffner oder Procurator trug die Verantwortung für die finanziellen Belange der Kartause und für die gesamte Wirtschaft, von der Landwirtschaft über den Weinbau bis zu den Einkünften aus den Abgaben der Bauern, die dem Kloster unterstanden. Durch die Fenster konnte der Procurator das Treiben auf dem Wirtschaftshof verfolgen.
Im Südflügel liegen weiter gegen Osten «daß große Refectorium » und «daß kleine Ao 1714 eingerichtet» (5 und 6), das eine vermutlich im Sommer, das andere im Winter benutzt, weil es besser heizbar war. Darüber befanden sich «Die Tafel Stuben mit den Gast Zimmeren Ao 1686 eingerichtet» (7). Im Zuge dieses Umbaus von 1686 dürfte der Ostrisalit des Südflügels verschwunden sein, der schon auf dem Ölgemälde von 1691 nicht mehr zu sehen ist. Zwischen Procuratur und Refektorium lag sinnvollerweise «die Kuchell» (8). Die Klosterküche liess Gutsherr Victor Fehr 1880 zur Täferstube umgestalten. Wichtig für die Küche war «der Fischgehalter Ao 1707 erbawt» (9). Bei diesem Neubau muss es sich um einen Ersatz gehandelt haben, denn schon auf den älteren Bildern ist an dieser Stelle jeweils das gartenhausähnliche Gebäude zu sehen, dessen mit Latten verkleidete Wände die Luftzufuhr gewährleisteten, aber zugleich Vögel wie Reiher fernhalten sollten. Für die Kartäuser, die kein Fleisch von warmblütigen Tieren essen, waren Fische ein wichtiger Ernährungsbestandteil.
Der 1707 errichtete Ostflügel der Konventbauten wird schlicht «der Newe Baw» genannt und zusammengefasst, was sich darin befand: «der Newe Baw darin doplete Custorey [Sakristei], dass Capitul Haus, die Bibliothec und Ein schöner Keller Ao 1707 a R.P.P. [a Reverendo Patre Priore, vom ehrwürdigen Vater Prior] Christophero Schmid aus dem Grund erbawt und alles gewelbt» (10). Die Aufzählung nennt also die untere und obere Sakristei, den Kapitelsaal und die darüberliegende Bibliothek sowie einen Keller. Diese und weitere Gemeinschaftsräume verbindet «der kleine Creützgang um den Kirchhoof» (11). Mit dem Ausdruck «Kirchhof» bestätigt auch dieser Künstler, dass dort der Friedhof lag, auch wenn er die Fläche nicht mit kleinen Kreuzen markiert. Hingegen ist bei ihm ein grosses Kruzifix an der Ostseite zu bemerken. Dieses fehlt auf den früheren Abbildungen, obwohl dort die entsprechende Stelle zu sehen ist. Daraus kann geschlossen werden, dass dieses Kreuz vielleicht ebenfalls im Zuge einer Erneuerung dorthin kam.
Im Westflügel der Konventgebäude befinden sich «die Kellerey und Gast Zimmer» (12). Aus Schriftquellen weiss man, dass mit «Kellerei» jene Räume bezeichnet wurden, in denen die Angestellten
verpflegt wurden.60 Diese Zone lag somit ausserhalb der Klausur, die den Zellenmönchen vorbehalten war, denn die landwirtschaftlichen Arbeiten wurden zur Entstehungszeit der Zeichnung von weltlichen Angestellten erledigt. Im ersten Stock lagen weitere Gastzimmer.
Hinter der Kirche befindet sich bis heute «der große gewelbte Keller solang als die Kirchen» (13). Er diente zur Lagerung von Wein. Der Weinhandel wurde ab dem 17. Jahrhundert immer wichtiger und war ein Hauptgrund für den wachsenden Reichtum der Kartause.
Die Zelle an der Südostecke des grossen Kreuzgangs war «das Vicariat» (14). Der Vikar war bei den Kartäusern der Stellvertreter des Priors und vermittelte zwischen der Mönchsgemeinschaft und dem Prior. So war sein Häuschen sinnvoll inmitten der «übrige[n] Zellen des Convents» (15) platziert.
Am äussersten Ende der Südseite des grossen Kreuzgangs befand
sich ein von aussen zugängliches Gebäude, das nicht mehr existiert – vielleicht wurde es abgebrochen, als die Familie Fehr die Kartause bewohnte: «ein Keller hievor der alte Fischgehalter» (16). Diese Funktion wurde vielleicht 1707 mit dem Neubau des Fischgehalters vor der Küche ersetzt. Das Gebäude lehnte sich an die heute ebenfalls verschwundene Mauer an, welche die Zellengärten gegen aussen abschloss und den Mönchen die Aussicht verwehrte.
Von allen Zellen her ermöglichte «der Große Creützgang deß Convents» (17) den Mönchen den direkten Zugang zur Klosterkirche. Sie erreichten die Kirche von Süden her via den Ostflügel des kleinen Kreuzgangs, von Norden her aus dem Kreuzgang über ein kurzes Stück im Freien. Später wurde hier wohl ein kleiner Verbindungsgang geschaffen. Dies geschah möglicherweise 1740, gleichzeitig mit der Neuwölbung des heutigen oberen Ausstellungskellers im Kunstmuseum Thurgau.61 Obwohl der grosse Kreuzgang auch die Zellen untereinander verband, war es den Mönchen verboten, sich gegenseitig in den Zellen zu besuchen, denn in den Häuschen hatten sie ihr streng abgeschlossenes Einsiedlerleben zu führen. In der Federzeichnung ist der zentrale Baum des grossen Kreuzgartens im Vergleich zur Darstellung von 1691 mächtig gewachsen und trägt im Wipfel ein bewohntes Storchennest. Weitere Bäume sind hinzugekommen. Rechts neben dem Eingang zum Ostflügel bildet ein Wandbrunnen – der nachmalige Procurator Josephus Wech nennt ihn «Conventbrunnen»62 – den Ersatz für den früheren Springbrunnen.
Die nun folgenden Nummern betreffen die Gebäude am Wirtschaftshof, wo die angestellten Knechte wirkten. Der Hof wird von zwei Hunden belebt. An der locker bebauten Nordseite des Hofs standen «das Brennhaus» (18), das der Schnapsbrennerei diente, und «die Sennhüten» (19) für die Milchverarbeitung. Mitten im Hof befand sich «das Knechten Haus, darunder der große 2 fachte Torggel» (20). Unterhalb der Räume für die Knechte wurde also Wein gepresst. Eine weitere Weinpresse, «der kleinere Torggell, darunder ein gewelbter Keller» (21), befand sich ganz in der Nähe. Sinnvollerweise stand auch «das Küeffer Haus» (22) gleich daneben. In der Nähe fand man auch «die s.v. Schweinstähl» (23) – die Schweineställe. Die Abkürzung s.v. steht für den lateinischen Ausdruck «salva venia», was etwa mit der Formulierung «mit Verlaub» umschrieben werden könnte. Der Zeichner entschuldigt sich damit für das «unanständige» Wort.
Im südlichen Teil des Wirtschaftshofs befinden sich «die Pfisterey» (24), also die Bäckerei, und «die GottsHaus Mülly» (25), dort, wo sich im Restaurant zur Mühle noch heute ein Mühlenrad dreht. Gegenüber liegt an der westlichen Klostermauer «die große Scheür, darin ein gewelbter Keller Ao 1680 a R.P. Josepho Schmid erbawen» (26).
Neben dem Südportal schmiegt sich an die Klostermauer, nun auf die westliche Seite versetzt, «das Portner Haus darin die Schmiten und Schloßerei Ao 1714 a R.P. Anthelmo Entlin erbawen» (27). Bisher stand das Pförtnerhaus östlich des Südportals. An der Aussenseite spendet ein Brunnen den Vorbeigehenden Wasser. Dieser Brunnen, bisher aus Holz, wurde 1754 aus Rorschacher Sandstein neu gebaut. Östlich steht, ebenfalls an die Klostermauer angebaut, «der newe 6 fachte durchaus gewelbte Pfertstall Ao 1715 von ersagtem Hern Prioren aus dem Grund erbawen» (28). Anschliessend an Mühle und Scheune steht «der alte Pfert Stahl» (29) rechtwinklig zur Klostermauer. Das Südportal ist «der Eingang in das GottsHaus Ao 1686. Christopero [sic] Schmid erbaut» (30). Hinter der Mühle liegt «der Kuchel Garten» (31) mit seinen wohlgeordneten Gemüsebeeten. Dahinter steht das vermutlich zum Aufbewahren von Gemüse und Kräutern dienende «Gewelber zum Kräutlwerckh» (32). Ganz in der Nähe liegt das Bienenhaus an der Umfassungsmauer der Zellen. Weiter entfernt, nämlich hinter den östlichen Zellen, aber noch innerhalb der Klostermauer, befindet sich der «Kraut Garten» (33), der Gemüsegarten.
Der Weiher vor der Mühle diente als «Pfert Schwämy und Sammler für die undere Müllenen» (34). Hinter der Klosteranlage am Fuss des Rebbergs ist der «Brunnquell und Waßerstuben» (35) markiert, wo heute noch das Quellwasser sprudelt. Der Weiher davor diente als «Sammler für die Closter Müll [Mühle]» (36). Auch für «das Wöschhaus» daneben (37) benötigte man sauberes Wasser.
Von oberhalb des Rebbergs grüsst die «Capell zu Warth erbawt Ao 1474 und in dißmaligen Standt gesezt 1707» (38). Vielleicht stellte man im Zusammenhang mit der Erneuerung von 1707 neben der Kapelle ein grosses, weithin sichtbares Doppelkreuz oberhalb des Rebbergs auf, das in dieser Zeichnung erstmals zu sehen ist. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts scheint es verschwunden zu sein; um 1790 wurde es durch ein einfaches, immer noch sehr grosses Kreuz ersetzt. Auf dem Blatt ist am linken unteren Rand sogar abgebildet und benannt, was sonst kaum je zu sehen ist, nämlich die Gebäude, die sich dem Bach entlang gegen die Thurebene hinunterzogen und die Wasserkraft nutzten. Es waren dies «die undere Müllin, Sagen und Reiby» (39), die eine kleine Gebäudegruppe bildeten, und weiter unten die Bauten von «Zwey Bry Mülinen darin dry Mallheüffen» (40). Der schwer lesbare Ausdruck bezeichnet womöglich eine Breimühle, also eine Schrotmühle mit drei Mahlhaufen, das heisst Mahlgängen.
Dort, wo die grosse Klostermauer von Süden nach Nordosten umknickt, steht hinter Zaun und Gartentür ein Bildstock. Er kündet von einem Unglück, das beim Ittinger Sturm eine Rolle gespielt haben soll: Das «Bildstöcklin darbei Ao 1519 die Schwin ein Kindt verzehrt» (41). Dieser Unglücksfall, bei dem ein Eber des Klosters einen Knaben aus Warth tötete, sei, nach der Chronik von Modelius, «Zündstoff und Anlass des Hasses» gegen die Kartause gewesen, und der Vater des Knaben sei einige Jahre später bei der Zerstörung der Kartause einer der ersten, ja der eigentliche Brandstifter gewesen, heisst es in der Chronik von Heinrich Murer. Als Letztes wird die «Große Closter Wyß» (42) beziffert, die sich rund um die Kartause ausbreitet.
59 Historisches Museum Thurgau, Inv. T 9446, 48,6 × 59 cm.
60 Ich danke Felix Ackermann für die richtige Deutung des Ausdrucks.
61 Wech, Von Aufführ- und Erhaltung, S. 17, insbesondere Anm. 76.
62 Wech, Catalogus Priorum, S. 176.