Ittinger Altar, Mitteltafel und erhaltener Flügel
Herstellungsjahr: um 1550
Den Anfängen des Lebens Jesu widmet sich die Innenseite des sogenannten Ittinger Altars.161 Der Flügelaltar weist ein christliches Bildprogramm auf. Leider ging der linke Flügel verloren. Der Altar dürfte aus der Mitte des 16. Jahrhunderts stammen, der Zeit des Wiederaufbaus der Kartause nach dem Ittinger Sturm. Als Maler vermutet man den St. Galler Caspar Hagenbuch den Älteren (um 1500 – um 1579). Dieser kam immer wieder mit dem Rat der Stadt St. Gallen in Konflikt und 1534 gar ins Gefängnis, weil er für katholische Auftraggeber arbeitete, was ihm und seinem Sohn 1553 noch einmal vorgeworfen wurde. Zu solcher «abgötterey» gehörte demnach auch der Ittinger Altar.
Im Mittelstück ist die Anbetung der Könige zu sehen: Maria mit dem Kind auf dem Schoss, denen die prunkvoll gewandeten Weisen aus dem Morgenland ihre Verehrung und ihre Geschenke darbringen. Gemäss der Darstellungstradition hat sich der vorderste – der älteste – König niedergekniet, hinter ihm stehen der zweite mittleren Alters und der junge dunkelhäutige König. Die Könige verkörpern auf diese Weise Menschen unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters.
Für die Gestaltung Marias und zweier Könige liess sich Hagenbuch von einem Stich Martin Schongauers (um 1445/50–1491) inspirieren. Maria sitzt vor dem Stall und hält dem Kind das Geschenk des vordersten Königs hin. Bei Schongauer ist es ein geripptes Gefäss, auf dem Altarbild eine goldene Kugel; sie erinnert an einen Reichsapfel, das Zeichen für die Weltherrschaft Christi. Der König kniet ehrfurchtsvoll mit gefalteten Händen; die Krone hat er angesichts des Himmelskönigs abgenommen und neben sich gelegt. Hagenbuch kopierte seine Stellung vom Bild Schongauers, versah aber darüber hinaus den Mantel mit einem prachtvollen Damastmuster und veränderte die Kronenform. Auch den zweiten König hat er übernommen, ihn jedoch näher an den unteren Bildrand gerückt und ihm ebenfalls ein anderes Gefäss in die Hand gegeben. Auf dem Stich gleicht es einer Turmmonstranz, hier ist es eindeutig ein Strausseneipokal. Es ist merkwürdig, dass der Maler nicht auch den dritten König aus dem Stich übertragen hat. War er ihm vielleicht zu wenig prächtig? Jedenfalls hüllte Hagenbuch ihn in erlesene Stoffe, in einen Rock mit geschlitzten Ärmeln und eine Hose mit bunten Bändern. An den Fersen glänzen die Sporen, doch hat er nicht bemerkt, dass er dem armen König die Beine verdreht hat; er zeigt sie von den Füssen bis zu den Knien von hinten, während die Gestalt im Übrigen seitlich gesehen ist.
Für den Stall verwendete er eine noch ältere Vorlage, einen Holzschnitt des Meisters E. S. (tätig um 1450–1467), von dem er die altertümliche Perspektive kopierte, die zu seiner Zeit längst überholt war.162 Das Holzwerk des Daches übernahm er Balken für Balken, ja sogar mit allen Nägeln. Er durchschaute aber die Konstruktion nicht ganz und stellte den Stall bedeutend schmaler dar, indem er ein Stück der Mauer im Hintergrund wegliess und die Querbalken verkürzte. Den Durchblick zu den Tieren im Stall veränderte er so, dass die Krippe des Ochsen quer in den Durchgang gespannt zu sein scheint. Für den Hirten, der zaghaft über die Stallmauer späht, liess er sich wohl ebenfalls von dieser Vorlage anregen. In Hagenbuchs Werk tritt als wesentlicher Unterschied die Farbe hinzu, ferner die bedeutende Vergrösserung des Formats.
Auf dem erhaltenen Flügel des Altars163 knien Maria und Joseph vor dem auf dem Boden liegenden Jesuskind. Als Inspirationsquelle dürfte wiederum eine Druckgrafik gedient haben: ein Holzschnitt mit der Signatur «VS 1533».164 Auch hier sind es vor allem die Figuren der Eltern, die der Vorlage mit einigen Freiheiten nahekommen. Die auf dem Stich bereits herbeigeeilten Hirten fehlen, hingegen blickt auf dem Gemälde einer von ihnen über die Stallmauer; darüber erkennt man die auf dem Stich angedeutete Verkündigung an die Hirten.
Der Künstler spielte in den beiden bestehenden Tafeln subtil auf die christliche Heilsgeschichte an: Auf der Mitteltafel findet sich ein hölzerner Stall, auf dem Flügel spielt die Szene vor einem steinernen Gebäude. Mit angedeuteten Zeichen des Zerfalls wollte Hagenbuch nicht nur auf die Armut der Heiligen Familie und das Provisorische ihrer Unterkunft hinweisen, sondern auch auf die abgelaufene Zeit des Alten Testaments, die dank Jesus durch ein neues Zeitalter abgelöst wurde.
Auf der gesamten Innenseite bildet eine Goldfläche in noch mittelalterlicher Manier den Hintergrund; die in den Vorlagen bereits umgesetzte Zentralperspektive hat Hagenbuch nicht berücksichtigt. So steht sein Werk am Übergang von Mittelalter zu Renaissance, an einer Zeitenwende, die auch das dargestellte Geschehen widerspiegelt.
Wie andere Kunstwerke aus Ittingen nahm der Kanton Thurgau diesen Altar nach der Aufhebung des Klosters für das vorgesehene Historische Museum an sich. Da der Goldgrund der Mitteltafel dem damaligen Regierungsrat Johann Andreas Stähelin nicht gefiel, liess er ihn mit einem blauen Himmel übermalen, was später wieder rückgängig gemacht wurde.165
Wenn man die Flügel des Altars schloss, zeigte sich ein gänzlich
anderes Thema als die freudige Geburt – es wurde an das Leiden
erinnert, auf dem erhaltenen Flügel mit der schmerzhaften Muttergottes.
161 Historisches Museum Thurgau, Inv. Nr. T 118, Mittelteil 118 × 100 cm.
162 Früh, Zwei Gemälde, S. 34
163 119 × 44,5 cm.
164 Holzschnitt in Martin Luther, Avszlegung der Epistelen vnd Euangelie[n], : [...] durch den Advent, [...] biss auf den Sontag nach Epiphanie. Darin reichlich anzeygt vnd fürgebildet würt […], 1546. Das Monogramm wird im digitalen Bildarchiv der Pitts Theology Library als Virgil Solis (1514–1562), die Jahreszahl als 1523 interpretiert. Der mögliche Bezug auf diesen Holzschnitt wird hier erstmals vorgeschlagen, während der Schongauer-Stich schon länger als Vorbild genannt wird, etwa bei Knoepfli, Ittingen.
165 Mörikofer, Erlebnisse, S. 91.