Ittinger Vortragekreuz

Herstellungsjahr: um 1280
Technik: Goldschmiedearbeit
Masse: 63 × 50 cm
Das kostbarste Kunstwerk aus dem ehemaligen Besitz der Kartause ist zweifellos das sogenannte Ittinger Vortragekreuz.170 Das Prunkstück dürfte aufgrund von Vergleichen im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts in Strassburg entstanden sein. Es besteht aus einem teilweise leinwandbezogenen Holzkern, der mit Silber überzogen und vergoldet wurde. Die Fläche ist mit filigranen Efeuranken überzogen. Die vier Enden des Kreuzes sind als Lilienformen gestaltet, die mit Glasflüssen besetzt sind. Vor den Lilienenden liegen Vierpässe mit Reliefdarstellungen der vier Evangelisten, die an Lesepulten sitzen: Johannes (oben), Lukas (links), Matthäus (rechts) und Markus (unten). Als Hintergrund dient rotes Glas auf Silber-folie, was einen emailartigen Effekt bewirkt. Die Rückseite des Kreuzes ist mit getriebenen Efeuranken, Laubwerk und den Evangelistensymbolen verziert. Diese identifizieren die Figuren der Vorderseite. Der Christuskorpus ist vollplastisch getrieben. Er zeigt Stilmerkmale zwischen Romanik und Gotik.
Das Kreuz steht auf einem Fuss, der nicht zu den originalen Bestandteilen gehört. Er wurde 1592 vom Goldschmied Johannes Renner in Wil, St. Gallen geschaffen und scheint ursprünglich von einem Reliquiar mit mehreren Reliquien zu stammen, die in den Inschriften aufgezählt werden. Die genaue Betrachtung des Fusses lässt zunächst vermuten, dass er nachträglich für das Kreuz umgearbeitet und dafür verstärkt wurde. Denn das Kreuz war ja kein Reliquiar – oder etwa doch? Eine Untersuchung im Jahr 2010 ergab, dass der Christuskorpus nachträglich auf der Rückseite gewaltsam geöffnet worden war, um ein kleines Stoffpaket hineinzuzwängen. Da man dieses nicht herausnehmen kann, ohne den Korpus zu beschädigen, muss der Inhalt des Päckchens einstweilen verborgen bleiben, doch dürfte es sich um Reliquien handeln. Wann die Manipulation vorgenommen wurde, ist nicht bekannt, ebenso ob ein Zusammenhang mit dem Fuss besteht, was durchaus denkbar wäre.171
Unklar ist auch, wann und wie das Kruzifix nach Ittingen gelangte. Zu seiner Entstehungszeit war Ittingen noch keine Kartause. Wenn es damals schon vor Ort gewesen wäre, müsste es von den Augustinern mit dem Kloster übergeben worden sein. Oder gelangte es in der Anfangszeit nach 1461 als Schenkung nach Ittingen? Zu beidem gibt es keine Belege. 1524 kam die grosse Zerstörung durch den Ittinger Sturm – sollte das Kreuz Raub und Brand überstanden haben? Einen möglichen Hinweis liefert die Chronik des Ittinger Haushistorikers Heinrich Murer, der Anfang des 17. Jahrhunderts berichtet, ein gestohlenes Kruzifix sei ins Kloster zurückgebracht worden, weil der Dieb es nicht verbergen konnte. Murer beschreibt es als silbernes, völlig vergoldetes Kruzifix von grossem Wert und hohem Alter, das zu jener Zeit als einziges so grosses und so kostbares Kirchengerät angesehen worden sei.172 Könnte das unser Kreuz sein?
Die Untersuchung von 2010, bei der nicht alle technischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden konnten, ergab auf jeden Fall mehr Fragen als Antworten. Es wird noch weiterer Forschung bedürfen, um sie zu beantworten.
170 Historisches Museum Thurgau, Inv. T 85, 63 × 50 cm.
171 Früh, Kartause Freiburg.
172 Murer, Chronicon Ittingense, fol. 197.